Die Bibel lesen? Die Bibel verstehen?

 

 

 

 

 

 

 

Ist die revidierte Lutherbibel 2017 wirklich ein Gewinn?

Am 19. Oktober 2016 wurde durch die Deutsche Bibelgesellschaft auf der Frankfurter Buchmesse erstmals die revidierte Lutherbibel 2017 vorgestellt, und am Reformationstag 2016, also am 31. Oktober noch einmal durch die Evangelische Kirche in Deutschland. Die damit verbundene Euphorie löste ein großes Echo in den Medien aus. Waren Euphorie und Medienecho gerechtfertigt?

Mit der Lutherbibel ist die deutsche Übersetzung des Neuen und des Alten Testaments durch Martin Luther gemeint. Zunächst übersetzte Luther 1521 als auf der Wartburg in Sicherheit gebrachter „Junker Jörg“ das Neue Testament aus dem griechischen Urtext (dabei immer im Vergleich mit der damals allein gültigen lateinischen Vulgata-Übersetzung), es entstand das sogenannte Septembertestament von 1522. Zusammen mit mehreren Helfern, insbesondere Philipp Melanchthon, folgte dann in Wittenberg die Übersetzung des Alten Testaments aus dem Hebräischen (wiederum im Vergleich mit der lateinischen Vulgata), bis 1534 die Bibel in deutscher Sprache vollständig vorlag. Eine Ausgabe letzter Hand veröffentlichte Luther 1545, ein Jahr vor seinem Tode.

 

 

 

 

 

 

Die erste vollständige Bibelübersetzung von Martin Luther 1534,

Druck Hans Lufft in Wittenberg,

Titelholzschnitt von Meister MS

Fast gleichzeitig entstand in der Schweiz eine reformierte Bibelübersetzung, die sogenannte Zürcher Bibel von 1531 (Neufassung 2007). Doch evangelisch-lutherischer Glaube beruht allein auf der Lutherbibel. Ihre Revisionen, so die von 1912 und die von 1984, änderten daran nichts. An der Revision von 2017 haben nun fünf Jahre lang rund 70 Fachleute, Theologen und Germanisten, gearbeitet. Laut Verlagsangabe wurden rund 44 % der Bibelverse verändert, 56 % blieben unverändert. In den meisten Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland gilt die Lutherbibel seit langem zudem als kirchenamtlicher Bibeltext, also künftig wohl diese Neufassung.

Die Stellung der lutherischen Bibel verhinderte jedoch nicht, dass in den letzten Jahrzehnten verschiedene moderne Bibelausgaben auf den Markt kamen und zunehmend im Gottesdienst benutzt werden, wegen ihres vermeintlich leichter zu verstehenden Textes: „Die Gute Nachricht“ (deutsch für: „Ev-angelium“, 1968 bzw. 1982, Neubearbeitungen 1997, 2000, 2012; ökumenisch, die am meisten verbreitete neue Übersetzung); die katholische „Einheitsübersetzung“ (1980, anfangs ökumenisch erarbeitet; 2017 soll eine neue Ausgabe erscheinen); die vom Feminismus bestimmte „Bibel in gerechter Sprache“ (2006, ähnliche Tendenzen in der Lutherbibel 2017, siehe unten); die BasisBibel (20032012 erarbeitet) und die Neue Genfer Übersetzung (NGÜ, nur Neues Testament und Psalmen, seit 2000 erarbeitet, letzte Ausgabe 2015). – Ob das Textverständnis, das intellektuelle wie mehr noch eine verstehende Verinnerlichung bei den Hörern im Gottesdienst durch die Benutzung solcher modernen Bibelübersetzungen gefördert wird, zumal wenn sie von im lauten Lesen und Sprechen nicht geübten Kirchengemeinderäten vorgetragen werden, muss bezweifelt werden. Schon Petrus schrieb in seinem 2. Brief (3,16), dass in den Paulusbriefen „etliche Dinge schwer zu verstehen“ sind (1984 und 2017: einige Dinge).

Was ist bei der Lutherbibel 2017 anders als bisher?

Die Lutherbibel 2017 wurde von der Deutschen Bibelgesellschaft in Stuttgart in vielen verschiedenen Ausgaben herausgebracht (www.die-bibel.de), zum Bespiel mit der künstlerischen Einbandgestaltung durch verschiedene Prominente. Besonders hingewiesen sei auf die digitalen Ausgaben, als eBook, als CD-Rom (mit Suchfunktion) und als App für Smartphones. Auch in den Buchausgaben erleichtern Beigaben die Benutzung der Bibel, vor allem ein ausführliches Stichwortverzeichnis, das zu gesuchten Bibelstellen hinführt. Die oben abgebildete Buchausgabe enthält sogar 64 Seiten zur Person Luther und seiner Bibelübersetzung mit farbigen Abbildungen.

Auf folgende Neuerungen wird hingewiesen:

Genauigkeit: Die Neuübersetzung sei sprachlich genauer als die bisherige, wird gesagt und als Beispiel Matth. 8,14 genannt: nun „ein großes Beben im Meer“ statt bisher „ein gewaltiger Sturm auf dem See“ (1984) bzw. „ein großes Ungestüm im Meer“ (1912). Was ist wichtiger: Ursprachliche Korrektheit oder sprachliche Eingängigkeit für die Geschichte „Die Stillung des Sturms“ (so die Überschrift auch noch 2017!)?

Verständlichkeit: Hebamme statt Wehmutter. Oder: „Die Verfolger sitzen uns im Nacken“ statt: „Man treibt uns über den Hals“ (Klagelieder Jeremias 5,5a). – Aber viele Bibeltexte lassen beim Lesen ihren Sinn gar nicht erkennen; da helfen auch rein sprachliche Modifikationen nicht. Eine geradezu für einen Bibeltext dämliche Formulierung von 1984 in 2. Kor. 10,12 blieb stehen: aus dem „sich selbst loben“ (1912) wurde „sich empfehlen“ (intransitiv, reflexiv), was man nun wirklich nicht empfehlen (transitiv) kann.

Luthersprache: Wo in vorigen Revisionen Formulierungen Luthers geändert wurden, werden sie wieder übernommen, Beispiel: statt Schlangenbrut nun wieder Otterngezücht (Matth. 3,7 u. ö.; aber denkt ein Zehnjähriger bei Otter an Kreuzotter, also an Schlangen, oder an Fischotter?). Andererseits wurden bekannte Lutherworte nicht wiederbelebt, sondern in der Form von 1984 belassen, Beispiel: an der bekannten schönen Stelle Ps. 90,10: „Unser Leben währet siebzig Jahre ... und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“ (1912) wird aus: „Mühe und Arbeit“ nach wie vor: „vergebliche Mühe“. Oder in 2. Kor. 12,9 wurde aus dem bekannten Wort: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (so auch 1984) nun: „Meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit“. Das sind Verschlimmbesserungen. – Unzählig sind die aus der Lutherbibel stammenden Sprichwörter und Redewendungen: Perlen vor die Säue werfen, etwas wächst mir über den Kopf u. v. m. Oft ist deren Ursprung bei Luther gar nicht bewusst.

Geschlechtergerechtigkeit: Aus Weib wird Frau, aus: Brüdern werden Brüder und Schwestern (sicher notwendig, aber ohne Grundlage im griechischen Originaltext; doch werden die Schwestern auch wiederum nicht immer!) Allerdings kommen um die Aussage „es sollen die Frauen schweigen in der Gemeindeversammlung“ (1. Kor. 14,34, so 1984, populär: Das Weib schweige in der Gemeinde) auch die feministischen Revisionisten von 2017 nicht herum (nur sind es jetzt Gemeindeversammlungen), sie steht halt im Urtext.

Und schließlich Judentum-Korrektheit: Die sog. Substitutionstheologie oder Enterbungslehre des Neuen Testaments ist seit längerem umstritten, d. h. die Aussage, dass an die Stelle des von Gott auserwählten Volks Israel nun durch Christus die Christen als Volk Gottes getreten sind. Das, also die Verwerfung Israels als Volk Gottes, passt nicht zum christlich-jüdischen Dialog. Aber ändert sich für einen Bibelleser oder -hörer wirklich etwas auffällig, wenn in Matth. 27,25 aus „das ganze Volk“, welches sich vor Pilatus von Jesus distanziert, jetzt „alles Volk“ wird, was meinen soll: (nur) das dort versammelte Volk damaliger Juden? Und Judenmission wird heute, entgegen der Jahrhunderte lang praktizierten Mission, als tabu erachtet, zumal nach dem Holocaust, trotz anders lautender entsprechender neutestamentlicher Textstellen. (Luthers zeitgebundenes negatives Verhältnis zu den Juden ist ein besonderes Thema.)

Die ganze Bibel oder die Bibel in Auswahl?

Für Luther war die Bibel der einzige Grund des Glaubens: sola scriptura. Doch er las und interpretierte die vielen unterschiedlichen Teile des Neuen und mehr noch des Alten Testaments im Blick auf die eine Mitte: „was Christum treibet“, solus Christus. So ist die Bibel Gottes Wort, weil Gott in ihr zum Menschen spricht. Und zugleich soll die Heilige Schrift sich selbst interpretieren (scriptura sacra sui ipsius interpres). – Die Frage: die ganze Bibel oder die Bibel in Auswahl hat Christen, Kirchen, Theologen seit langem beschäftigt. Seit der Aufklärung, seit es eine ernsthafte Bibelwissenschaft gibt, wird die Bibel hinterfragt, werden ihre Aussagen relativiert. Ein fundamentalistisches Bibelverständnis statt eines historisch-kritischen haben gleichwohl vor allem die sogenannten Evangelikalen, heute mehr denn je.

Aber wer liest heute noch die ganze Bibel oder in der Bibel überhaupt? Am ehesten bedeutet wohl den meisten Menschen die Ethik der Bibel etwas, also die Zehn Gebote im Alten Testament (wer weiß, wo sie zu finden sind?, am besten in der Fassung von Luthers Kleinem Katechismus), eher noch eingeschränkt auf die Gebote 3 oder 4 bis 10; oder die Bergpredigt Jesu mit den Seligpreisungen im Neuen Testament (wo stehen sie?) mit ihrer Friedensethik; oder das Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Es gibt die sogenannte fortlaufende Bibellese (lectio continua, heute als Ökumenischer Bibelleseplan), nach deren veröffentlichtem Plan für jeden Tag des Jahres ein Abschnitt ohne Kürzung vorgesehen ist und so im Laufe von vier Jahren das ganze Neue und im Laufe von acht Jahren das ganze Alte Testament gelesen wird. (Wer so die Bibel fortlaufend liest, stößt auf viele unbekannte, schwer verständliche und schwer nachvollziehbare, oft wunderliche Stellen.)

In der kirchlichen und in der schulischen Praxis begegnen uns – das kann gar nicht anders sein – nur ausgewählte Bibeltexte und ausgewählte biblische Geschichten. Seit dem 12. Jahrhundert gibt es passend für alle Sonn- und kirchlichen Feiertage des Kirchenjahrs vom 1. Advent bis zum Ewigkeitssonntag (mit den Hochfesten Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten) die altkirchlichen Perikopen („Abschnitte“, lectio selecta): eine Epistellesung aus den Briefen des Neuen Testaments und eine Evangelienlesung aus den Evangelien. Lektionare sind liturgische Bücher, die die Texte aller Episteln und Evangelien enthalten.

Im Laufe der Zeit traten zu den zwei Perikopen hinzu: eine alttestamentliche Lesung, ein Sonntags- und Wochenpsalm (Introituspsalm), ein Wochenspruch, ein Wochenlied und der Predigttext für den jeweiligen Sonn- oder Feiertag, in alle sechs Jahre wiederkehrenden Predigttextreihen festgelegt, von denen die ersten beiden die Evangelienreihe und die Epistelreihe sind. Für die tägliche Bibellese nach dem Kirchenjahr gibt es zudem einen gleichbleibenden Wochenplan im Anschluss an das Thema des Sonntags („Lesung für das Jahr der Kirche“). – Die weit verbreiteten Monatssprüche und Jahreslosungen sind dagegen nicht am Kirchenjahr ausgerichtet.

Eine besondere Tradition haben die weltweit in vielen Sprachen gedruckten Herrnhuter Losungen für jeden Tag des Jahres, zum ersten Mal 1728 unter dem Grafen Zinzendorf und seitdem jährlich neu von der Brüdergemeine aus einer großen Sprüchesammlung gezogen (ausgelost), bestehend aus der alttestamentlichen Losung, einem dazu passend ausgesuchten neutestamentlichen „Lehrtext“ und einem Gebet oder Kirchenlied.

Es steht zu befürchten, dass von Kind auf mit der Bibel Vertraute, also „bibelfeste“ Menschen sich nun mit bisweilen fremd anmutenden Bibeltexten konfrontiert sehen, beim Anhören der Perikopen im Gottesdienst oder beim Lesen der Losungen. Manches Vertraute ging verloren.

Seit der Reformationszeit werden in theologischen Bekenntnisschriften die Lehraussagen mit Bibelversen als Belegstellen versehen. Biblische Spruchbücher für den kirchlichen Unterricht hat es im 17. und 18. Jahrhundert gegeben. Im 18. Jahrhundert wurden für den schulischen Religionsunterricht die ersten „Biblischen Geschichten“, also Sammlungen von Geschichten aus dem Alten und dem Neuen Testament geschaffen. Die bekanntesten sind die von Johann Peter Hebel, zuerst 1824, und die von Jörg Erb mit dem Titel „Schild des Glaubens“, zuerst 1941. Kinderbibeln, wie die Biblischen Geschichten durchweg mit Abbildungen versehen, gab es zum ersten Mal schon 1570; heute sind mehrere auf dem Markt, zum Beispiel von Michael Landgraf.

 

Resümee

Die Lutherbibel ist als Sprachkunstwerk, das wie kein anderes Buch die deutsche Hochsprache, insbesondere die Schriftsprache, geprägt hat, ein Bildungsbuch, ein Kulturgut. Trotzdem scheint für die meisten Menschen die Bibel „ein Buch mit sieben Siegeln“ zu sein (um eine Bibelstelle aus der Offenbarung des Johannes zu zitieren). Zudem scheint sie, anders als bis ins 19. Jahrhundert hinein, als ganze ein weitgehend ungelesenes Buch zu sein. Und es ist nicht damit zu rechnen, dass sich daran etwas ändert, auch nicht durch diese weitere Bibelrevision. Zur Euphorie gibt es also keinen Grund. Immerhin ist die Heilige Schrift durch die Lutherbibel 2017 und deren Medienhype wiederum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt worden.

Gerhard Schwinge

Die Lutherrose   -    Luthers Signet

 

 

Der Prediger tritt hinter seiner Botschaft zurück, seine nach

oben weisende Hand verbirgt

sein Gesicht.

 

G.S. als Pastor auf der Kanzel der

St.-Florians-Kirche aus dem

13. Jahrhundert in Sillenstede (Nordoldenburg), ca. 1965

Der Vortragende hat seine Zuhörer im Blick

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© Gerhard Schwinge