Buchbesprechung

erschienen in:

Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte, 10 (2016), Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 305-308

 


Europa reformata. Reformationsstädte Europas und ihre Reformatoren. Hrsg. von Michael Welker, Michael Beintker u. Albert de Lange. Leipzig: Ev. Verlagsanstalt 2016, 503 S., zahlr. farb. Abb., flexibler Einband, 29,90 Euro

„Luther 2017. 500 Jahre Reformation“ – von diesem Jubiläum ist schon seit Jahren die Rede, insgesamt eine „Luther-Dekade“ lang, mit jährlich neuer Thematik. Bücher und Arbeitshilfen erschienen und erscheinen. Unzählige Ausstellungen, Veranstaltungen und „Events“ werden landauf, landab durchgeführt, 2016 im Vorlauf auf das eigentliche Jubiläumsjahr, oder noch geplant. Hauptamtliche Beauftragte auf EKD-Ebene und auf landeskirchlicher Ebene sorgen für die nötige Koordinierung. Seit längerem wurde durch die Jubiläumsplaner auf höchster Ebene ein „Europäischer Stationenweg“ festgelegt (www.r2017.org/europaeischer-stationenweg): Beginnend Anfang November 2016 in Genf und endend im Mai 2017 in Wittenberg, besteht er aus je ein- bis zweitägigen Stationen in 68, bisweilen ganz abgelegenen und unbekannten Städten kreuz und quer durch Europa, für die örtliche Veranstalter Eigenes planen; sogar Rom ist eine Station. Baden ist mit Heidelberg am 12./13. und Bretten am 14./15. Dezember 2016 vertreten; nur 28 der im unten vorzustellenden Sammelband porträtierten 48 Städte werden auf dem Stationenweg berührt. Auch die „Badische Website zur Reformationsdekade“ unter www.ekiba.de listet längst ganz konkret in einem schier endlosen, detaillierten Terminkalender zahllose Angebote von Kirchenbezirken, Kirchengemeinden und anderen Veranstaltern der Landeskirche auf. Diese gab dazu extra eine Broschüre mit „Informationen zur Gestaltung der Reformationsdekade in Baden“ heraus. Dabei wird auch der Slogan „Ich bin so frei“ eingeführt und empfohlen, bis hin zu T-Shirts mit diesem Aufdruck.

Oft geht es um eine manchmal recht bemüht anmutende Aktualisierung und Popularisierung Luthers und der Reformation. Dabei ist manches zu verkraften. Theater- und Musikaufführungen und „Performances“ gehören selbstverständlich dazu; eine Auswahl aus Baden und darüber hinaus: Play Luther, Musical Martin Luther / Pop-Oratorium Luther, Luther Rock, Church Night, Mensch Luther. Auf dem Buchmarkt finden sich ebenfalls allerlei „populäre“ Titel, zum Beispiel nur aus dem einen Verlag, in dem auch das hier zu besprechende Werk erschien: Was Luther wirklich gesagt hat, Sprichwörter Luthers, Lebensweisheiten Luthers, Schlag nach bei Luther, Luther für Neugierige, Luther für Eilige, Luther kurz und knackig, Anekdoten um Martin Luther, Luthers Paradiesgarten, Luthers Küchengeheimnisse, Luthers Weihnachten, Plaudereien an Luthers Tafel, Zu Gast bei Käthe Luther, Die unverhoffte Liebesgeschichte der Katharina von Bora.

Doch über die historischen Wurzeln der Reformation, die Reformatorengestalten und die wesentlichen Kirchenreformen des 16. Jahrhunderts gibt es selbstverständlich ebenfalls unzählige Fach- und Sachbücher. Wegen der Nähe zum hier anzuzeigenden Sammelband sei nur noch auf die ebenfalls in der Evangelischen Verlagsanstalt in Leipzig herauskommende „Journalserie“ „Orte der Reformation“ hingewiesen: Von den anscheinend rund 35 geplanten großformatigen Broschüren zu Reformationsstädten im damaligen deutschsprachigen Raum (zusätzlich Genf und Prag) sind bisher etwa 30 erschienen, mit jeweils mehreren Beiträgen historischen Inhalts, aber auch touristischer Art, und reich bebildert. Eine der Broschüren informiert über Heidelberg und die Kurpfalz, andere informieren z. B. über Worms und Straßburg.

Nun endlich zu „Europa reformata“. Als Initiator des Sammelbands ist der vor dem Erscheinen verstorbene Braunschweiger Bischof Prof. Dr. Friedrich Weber anzusehen, dem der Band gewidmet ist. Friedrich Weber war Geschäftsführender Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), die laut Vorwort 2012 die Initiative „Europa reformata“ beschloss. Auch die ersten beiden Herausgeber, die emeritierten Professoren für Systematische Theologie (also keine Kirchenhistoriker!) standen in Verbindung mit der GEKE. Der dritte Herausgeber, der Niederländer de Lange, selbständiger Kirchenhistoriker, ist der eigentliche Bearbeiter der Sammlung, als Lektor, Redaktor und vor allem auch verantwortlich für die sehr reiche farbige Bebilderung, wenn auch fast nur in kleinformatigen Abbildungen; von ihm stammt der Beitrag zu Lyon mit Petrus Waldus. Die beiden anderen Herausgeber sind dagegen nicht mit einem Städteporträt vertreten; von Beintker stammt jedoch das Vorwort, von Welker die wichtige Einleitung. Diese informiert über die verschiedenen Aspekte der Reformation und sei der Lektüre empfohlen. Gleichwohl wären in dieser Einführung wünschenswert gewesen: eine eingehendere Berücksichtigung der Rolle des Humanismus und damit der Universitäten als einer der Entstehungsorte der Reformation und die Gelehrtensprache Latein, in der ja eine große Zahl der reformatorischen Schriften verfasst ist, neben den Schriften, Flugblättern, Bibelübersetzungen in den Landes- und Volkssprachen; ebenso wäre das reformatorische Liedgut und die Bedeutung der Musik für Luther erwähnenswert gewesen; schließlich die fast unvorstellbare europaweite Mobilität der Reformatoren, mit ihren Reisen unter ganz anderen Bedingungen als heute, meist sogar zu Fuß. – Gefördert wurde das Erscheinen des Bands von verschiedenen Seiten, auch von der badischen Landeskirche.

Reformationsstädte: nicht nur Wittenberg und Straßburg, Zürich und Genf, sondern auch viele andere, hier 48 in alphabetischer Anordnung als Auswahl aus solchen Städten, die sich um den Titel „Reformationsstadt Europas“ beworben hatten. In Deutschland liegen davon 30 und fünf in der Schweiz, andere in Ländern von Finnland bis Spanien, von Schottland bis Rumänien. (Im deutschen Südwesten finden sich davon fünf; zählt man Basel und Württemberg und Bayern hinzu, sind es elf.) Die Auswahl hätte noch viel größer sein können. So fehlen beispielsweise Erfurt (mit Caspar Aquila), Eisenach (mit Justus Menius) und Torgau (mit Johann Walter), Coburg und Tübingen und auch der Kraichgau (weil die Hinwendung der Kraichgauer Ritterschaft, insbesondere Dietrich von Gemmingens, zur Reformation schon auf das Jahr 1521 zurückzudatieren ist, erwägt die badische Landeskirche für 2021 das Jubiläum: 500 Jahre Reformation in Baden). Städte fehlen wohl nur zum Teil deshalb, weil sich diesen keine Reformatorengestalten zuordnen ließen. Das nämlich war das erste Prinzip der Auswahl, die Zuordnung von ein oder zwei Reformatoren zu den Städten. So begegnen nicht nur Luther, Melanchthon, sondern auch Bucer, Zwingli, Calvin – also nicht lediglich lutherische Reformatoren; ebenso finden sich Frauen unter den mehrheitlich Männern, so Margarethe Blarer, Olympia Morata, Katharina Zell und andere. Wie die sogenannten Vorreformatoren Waldes, Wyclif und Hus, so sind auch die Vertreter des linken Flügels der Reformation vertreten: Thomas Müntzer, Andreas Karlstadt und Menno Simons. Auch die Gegner der Reformation Johannes Eck, Johannes Cochläus und Hieronymus Emser bleiben in einigen Beiträgen nicht unerwähnt.

Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge sind durchweg ausgewiesene Fachleute, oft nachweislich eigener Buchveröffentlichungen zum jeweiligen Gegenstand. Allen Beiträgen sind drei bis vier Titel weiterführender Literatur beigegeben. Manche Texte mussten übersetzt werden – so aus dem Französischen und aus dem Englischen, in einem Fall aus dem Italienischen – und oft auch sprachlich redigiert werden. Allen Beiträgen wurden zudem „Für einen Besuch“ in der jeweiligen Stadt touristische Hinweise in Form von Internetadressen angefügt, so dass der Band dadurch sogar eine Art Reiseführer wurde.

Es sind also viele Entdeckungen zu machen, viel Überraschendes ist zu finden. Wer erwartete Béarn in Südwestfrankreich (ein Einzelfall im Band: eine Region, keine Stadt) oder Viborg in Dänemark oder Witmarsum in der niederländischen Provinz Friesland? Wer erwartete Reformatorengestalten wie Johannes Aepinus oder Jeanne d’Albret oder, oder ...? Andererseits findet man, zumindest im Inhaltsverzeichnis, sehr viele bekannte Reformatorennamen nicht. Dass solche zum Teil jedoch da und dort erwähnt werden, hätte ein Personenregister zeigen können.

Auf einzelne Beiträge einzugehen, durchaus von unterschiedlichem wissenschaftlichem Niveau, ist hier nicht möglich. Der Band demonstriert eben eine, natürlich nicht die ganze Vielfalt dessen, was unter Reformation und ihren Ursprüngen zu verstehen ist, einschließlich der zahlreichen personellen und geographischen Verflechtungen (heute würde man von Netzwerken sprechen). Dass der Band kein Personenregister und kein Ortsregister enthält, ist daher ein bedauerlicher Mangel. – Eine englische Ausgabe soll bereits in Bälde erscheinen, ebenfalls im Leipziger Verlag. Sogar eine koreanische Ausgabe ist vorgesehen.

Insgesamt liegt mit „Europa reformata“ also ein reiches, dabei preiswertes Geschenk zum Reformationsjubiläum 2017 vor.

Gerhard Schwinge

Der Prediger tritt hinter seiner Botschaft zurück, seine nach

oben weisende Hand verbirgt

sein Gesicht.

 

G.S. als Pastor auf der Kanzel der

St.-Florians-Kirche aus dem

13. Jahrhundert in Sillenstede (Nordoldenburg), ca. 1965

Der Vortragende hat seine Zuhörer im Blick

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© Gerhard Schwinge